Scene

Id
2857  
Name
Amiya Jenelle  
Summary
 
Position
33  
Scenetype
Off Camera  
Created At
2016-04-11 07:59:15  
Edited At
2016-05-03 01:40:11  
Show
Vendetta 116  


<< In einer anderen Zeit..>>

 

Nachdem sie die Scherben weggefegt und ihren Finger verbunden hatte, setzte sich Amiya Jenelle an den langen Bartisch. Der Tee in der Tasse duftete nach süssem Eukalyptus und dampfte heisse Wolken. Sie ging die Papiere durch, die dort vor ihr lagen. Sie las. Mit Neugier, erwartungsfroh. So wie unzählige andere Menschen auch an diesem Punkt ihres Lebens.

Ihr Bleistift tippte nachdenklich auf die Registrierungsformulare. University of Athabasca. 'Professional Arts' 

Unweigerlich schweifte Amiya’s Blick ab, zu dem Stück Papier, das unter den ganzen Formularen lag. Gerade so als wolle sie es sich vor ihren Augen verstecken. Und irgendwann streifte die untergehende Sonne ihr braunes Haar und verlieh ihr einen Glanz, während der Labrador-Retriever bereits vor der Tür hockte und Amiya erwartungsvoll ansah. 

Zusammen gingen sie hinaus, sie streichelte ihren Briefkasten, schaute dort hin wo sich der Wald zu einer Lichtung öffnete, während ihr Hund seine Runden drehte.

So wie sie es jetzt immer tun würden..

 

 

Wieder ein Morgen.

Amiya Jenelle schlief nicht lange. Der Regen hatte sie geweckt. Schauer aus dunklen Wolken, die wie ein drohendes Omen über dem See und dem Wald lagen, so als wollten sie die Welt darunter erdrücken. Und dennoch ging sie vor die Tür, zu dem Briefkasten, der auf einem schiefen Pfosten sein Dasein fristete.

Sie zog die Kapuze des Regenmantels tief in ihr Gesicht, schaute in die gähnend leere Höhle des Briefeinwurfs. Ihre feuchtgewordenen Lippen drückten sich nach vorn auf das regennasse Metall und hauchten einen flüchtigen Kuss auf ihren Briefkasten, bevor sie zurück in das Haus ging.

Wieder sprang der Labrador-Retriever euphorisch durch das Haus.

Amiya Jenelle zog den Regenmantel aus und betrat das Wohnzimmer, nur in Pyjama-Shorts und ein schulterfreies, langes Sweatshirt bekleidet. Den Hund begrüsste ihr erhobener Zeigefinger. Die Wunde ist längst verheilt.

„Vorsicht vor dem Bild.. Remember?“

Die ersten Donner grollten vom Himmel..

 

 

Und die Zeit ging ins Land. Sie verschlang wie ein gefrässiges Tier die Stunden, die Tage, prügelte ein Wetter nach dem anderen durch das Land. Zweimal hatte sie den Glasrahmen des Bildes ersetzt. Doch sie hängte es immer wieder am selben Platz auf.

Der Tee kochte, und sie trug ihre dampfende Tasse zum Bartisch, wo die halbfertige Hausarbeit ihr unmotiviert vollendetes Dasein fristete. ‚Antike Kunst im alten Ägypten’..
Nichts war weiter von hier weg als das.

Amiya zog das Stück Papier unter dem Stapel der geöffneten Bücher hervor, glättete die alten Knitterfalten mit der Rückseite ihres rechten Armes. Unweigerlich blieb ihr Blick an dem Tattoo hängen, das ihren Unterarm bedeckte.

Irgendwann schlief sie ein, das Gesicht schräg auf die Bücher gelegt. Und erst der Sturm des Abends weckte sie. Nun, das – und die warme feuchte Zunge des Labrador-Retrievers auf ihrem Gesicht.

Also stand sie auf, schaute seufzend auf den Hund, der erwartungsvoll vor der Tür wartete. Draussen trat sie wiedereinmal gegen den Pfosten des Briefkastens, im vollen Bewusstsein, das er nächste Woche wieder in seine gewohnte Schräglage verfallen würde.

Sie riss die metallische Klappe auf, riss den Abfall aus Flyern und Werbung aus der Öffnung, küsste den Briefkasten und schaute auf die Lichtung. Ein Reh schlug sich gerade vor Schreck in das Unterholz. Und ihr Hund jagte einem frisch geborenen, kleinen Schmetterling hinterher.

 

 

Die Stürme hatten sich längst gelegt.
Die Sonne stand jetzt höher, ihre unvergleiche Dominanz des Himmelszeltes zeigend. Und in der Nacht lebte der Wald, mehr denn je.

An diesem Abend stand die Tür sperrangelweit offen.
Genauso wie die Klappe des immer schräger stehenden Briefkastens, auf dem ihre Hausnummer 33 prangte.

Amiya Jenelle stand regungslos im Wohnzimmer, hielt den Gegenstand in der rechten Hand, den sie eben aus der Mailbox geholt hatte. Kein ungewöhnlicher Gegenstand, so simpel, so unwichtig eigentlich. Und doch..

Als wäre er ein Gefäss mit instabilem Uran, so vorsichtig legte sie ihn auf den Tisch.
Nicht ohne vorher behutsam den zerknitterten, liebgewordenen Brief eines Mannes beiseite zu legen, der ihr wahrscheinlich mehr bedeutet hatte als er jemals ahnen würde.

Ihr Hund hatte kein Gespür für Dinge, die den Lauf eines Lebens änderten.
Für diese Augenblicke, die alles veränderten. Er wusste nicht, was seine Herrin gerade aus dem Briefkasten geholt und welche Bedeutung es für sie hatte.

Er sprang auf die Couch, lebendig, froh. Ausgelassen. Und wieder herunter, mit dem Schwanz wedelnd.

„Lass’ es..“

Sanft erklang der Tadel aus Amiya’s Mund.
Das Tier bellte einmal freudig, dann nahm es Anlauf, sprang ab.
Und erwischte den Rahmen erneut mit den Hinterläufen.

Sie kannte das Geräusch nur zu gut. Das Zerplatzen der Glasscheibe auf dem Holzboden.
Und doch zuckte sie so sehr zusammen wie noch nie zuvor.

„Verdammt, Simargl, wie oft denn noch..?!“

Amiya Jenelle fuhr herum, wütend funkelten ihre Augen den Hund an.
Und doch vergab sie ihm augenblicklich, als das Tier den Kopf schräg legte und sie treu anschaute.

Sie blickte nochmals auf den Gegenstand auf dem Tisch. Dann setzte sie sich in Bewegung, ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken. Im Gehen flog das Sweatshirt auf den Boden.
Die Klinke zum Badezimmer wurde heruntergedrückt.
Ihre Finger drehten am Hahn der Badewanne. Fast unterwürfig kniete sie davor, liess das Wasser kühl wie Regen über ihren Kopf laufen.
Der Apothekerschrank wurde aufgerissen. Eine Tube mit der Aufschrift BLACK BEAUTY gegriffen. Minuten später sah sie ihr Antlitz im Spiegel. Heftig atmend. Frisch gefärbtes, schwarzes Haar. Sie hob den rechten Arm, auf dessen Unterseite das 1NCOMPL-Tattoo prangte. Ihre rechte Faust griff ihre Haarsträhnen, die andere die Tube mit der roten Farbe.

Simargl kam aus dem Wohnzimmer gelaufen. Schaute zu Amiya hoch, während sie ihren Kleiderschrank öffnete. Black Combatpants, abgetragen und faltig. Mit ruhigen Fingern schloss sie den Gürtel, striff sich ein schwarzes Death Grips-Shirt über, betrachtete sich abschliessend fast beiläufig im Spiegel.

Der Hund folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie neben der Tür in ihre alten Dockers schlüpfte und sie festschnürte als hinge ihr Leben davon ab, während sie auf das Bild blickte, das wiedermal auf dem Boden lag. Ein Foto. Eine Momentaufnahme. Ein Dach, das durch Leuchtfeuer in Flammen stand. Und davor, Kriss Dalm1, mit Fackeln in den Händen.

Im Gehen riss Amiya Jenelle die Lederjacke vom Haken, ging entschlossenen Schrittes zum Bartisch, steckte den Brief von L33 ein wie einen Schatz, den sie nie wieder verlieren möchte.
Sie spürte Simargl, der sich an ihre Beine schmiegte.
Mit der rechten Hand kraulte sie ihn hinter den Ohren.

„Wir müssen gehen..“

Den Gegenstand liess sie auf dem Tisch liegen.
Sie brauchte ihn nicht. Sie wusste genau, wohin sie gehen musste.

 

‚Napalm Over Woodstock’



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